W. J. Wagner: Bildatlas der österreichischen Zeitgeschichte

Cover
Titel
Bildatlas der österreichischen Zeitgeschichte.


Autor(en)
Wagner, Wilhelm J.
Erschienen
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Fritz, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Rechtzeitig zum Jubiläumsjahr 2008 legt Wilhelm J. Wagner, ehemaliger ständiger Mitarbeiter des nicht zuletzt für seine populärwissenschaftlich orientierten zeithistorischen Publikationen bekannten österreichischen Journalisten Hugo Portisch, einen populärwissenschaftlichen Bildatlas zur Geschichte Österreichs für den Zeitraum vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Einmarsch deutscher Truppen in Österreich im Jahr 1938 vor. Mit Hilfe umfangreicher Fotomaterialien aus der Zwischenkriegszeit, ergänzt durch Karten und Grafiken sowie durch Analysen von Historiker/innen bietet der Bildatlas einen historischen Überblick für Leser und Leserinnen, die sich für die Geschichte der Ersten Republik Österreich interessieren. Das Buch ist nicht an eine wissenschaftliche Fachöffentlichkeit gerichtet, sondern an ein breiteres Publikum adressiert, das über diesen Teil der Geschichte einen allgemeinen Einblick gewinnen möchte. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse darf der Leser/die Leserin dabei nicht erwarten. Wagner selbst ordnet das Werk dem populärwissenschaftlichen Genre zu und betont bereits im Vorwort, dass es „gewiss nicht objektiv, weil menschlich verständlich geschrieben“ wäre, wobei er „die leichte Sprache des Journalismus“ (S. 9) bediene. Dass das Buch keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, zeigt sich bereits daran, dass es über keinen Fußnotenapparat und über kein Literatur- und Quellenverzeichnis verfügt. Die im Buch wiedergegebenen, oft kaum bekannten Fotografien, werden zur Veranschaulichung des Beschriebenen und ohne eine kritische Reflexion des Mediums Bild oder eine Anknüpfung an den Bildinhalt im Text verwendet. Somit reiht sich das Buch in die lange Kette von Publikationen ein, die Fotografien ausschließlich zur einfachen Illustration einsetzt.

Der Bildatlas gliedert sich in drei große Teile, „Das Ende einer Ära – Das Ende des Habsburgerreichs“, „Auf der Suche nach Identität – Die Erste Republik“ und „Dem Untergang entgegen – Der Ständestaat“, wobei diese durch einzelne Kapitel, welche sich alle durchgängig über eine Doppelseite erstrecken, untergliedert werden. Die Kapitelaufteilung folgt einer thematischen Gliederung, innerhalb derer der Autor eine zeitliche Chronologie einzuhalten versucht. Diese Vorgehensweise kann mitunter verwirrend wirken, denn der Autor kehrt immer wieder zu zeitlichen Abschnitten zurück, die bereits zuvor angeschnitten worden sind. So ist das Buch eher an Leserinnen und Leser gerichtet, die sich rasch – ähnlich wie bei einem Lexikon – über einzelne, abgrenzbare Bereiche der österreichischen Geschichte informieren möchten. Dabei widmet sich Wagner zahlreichen Aspekten der Geschichte der Ersten Republik und nähert sich seiner Thematik deskriptiv an. Neben der politischen Geschichte beschäftigt er sich mit wirtschaftlichen und sozialen Faktoren, wirft einen kurzen Blick auf die Wissenschaft und Kultur in der Zwischenkriegszeit und lässt auch die identitätsstiftende Bedeutung von Sport nicht unerwähnt. Insgesamt aber blendet der Autor die Geschichte des „kleinen Mannes“ aus. Auf mentalitätsgeschichtliche Aspekte wird ebenso wenig eingegangen wie auf geschlechtergeschichtliche Gesichtspunkte.

Jedes Kapitel beginnt – vergleichbar mit journalistischen Artikeln – mit einer kurzen Zusammenfassung des jeweiligen thematischen Komplexes und setzt mit einer ausführlicheren Beschreibung fort. Die historische Erzählung durchbricht Wagner durch die Einflechtung individueller Perspektiven von Politiker/innen und anderen Zeitzeugen/innen bzw. durch Zitate aus zeitgenössischen Zeitungen, Reden und Briefen.

Obwohl Wagner in vielen Punkten versucht, einer differenzierten Geschichtsschreibung zu folgen und alle politischen Parteien kritisch zu beleuchten, verlässt er in manchen wichtigen Bereichen das Gebiet einer sachlichen Historiographie.

So lässt er im ersten Teil seines Buches ein nostalgisches Geschichtsverständnis erkennen. Er zeichnet in den Kapiteln über den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie das Bild eines Österreichs, das von seinen Nationalitäten im Stich gelassen wurde, als diese sich scheinbar unvermittelt und egoistisch von ihm abwandten und ihre Unabhängigkeit erklärten. Damit folgt er dem österreichischen Opfermythos vom Untergang der Donaumonarchie. Nationale Bestrebungen, die sich in den späteren Nachfolgestaaten seit dem 19. Jahrhundert verstärkt hatten, werden ausgeblendet und es wird auf ausschließlich innerösterreichische Interessen Bezug genommen. Politische Handlungsstrategien anderer Länder bleiben unbeleuchtet.

Das Hauptinteresse von Wagner scheint der Identitätssuche und dem damit zusammenhängenden Anschlussbestreben Österreichs an Deutschland zu gelten. Hierbei unterstreicht er die großdeutsche Denkweise zahlreicher Politiker, wobei er jedoch die damit zusammenhängenden politischen und wirtschaftlichen Gründe, wie beispielsweise die Ängste um die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des geschrumpften Landes nur marginal beleuchtet. Eine genaue Differenzierung zwischen großdeutsch und nationalsozialistisch unternimmt der Autor nicht, obwohl gerade für den mit der Materie nicht vertrauten Leser eine Unterscheidung der beiden Strömungen hilfreich wäre. Vielmehr zieht er problematische Folgerungen und behauptet, die Sozialdemokratie wäre – mit einigen Brüchen zwar – in den Nationalsozialismus gemündet (S. 22). Auch hebt er, insbesondere auf die Anschlusstendenzen in der Sozialdemokratie verweisend, politische Kontinuitäten sozialdemokratischer Politiker nach 1938 hervor. Auf die Distanzierung der Sozialdemokratie vom Anschlussgedanken in Reaktion auf die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 wird nicht explizit eingegangen1, vielmehr wird hervorgehoben, dass England in Reaktion auf die Römischen Protokolle 1934 gehofft hätte, „Rom würde mäßigend auf Wien einwirken, damit die Sozialdemokraten nicht ins nationalsozialistische Lager abwanderten“ (S. 199).

Die Schwerpunktsetzung auf sozialdemokratische Fehltritte wird auch im Kapitel über die österreichischen Juden ersichtlich, das sich aus nicht erkennbaren Gründen ausschließlich der Geschichte der Juden bis 1900 widmet. Nur in dem kurzen Satz „Nur die Sozialdemokratie bot lediglich Schutz“ (S. 131) wird die antisemitische Agitation christlichsozialer Politiker angedeutet. Der fehlende Verweis auf den Antisemitismus christlichsozialer Politiker wie Karl Lueger (von dem lediglich erwähnt wird, dass er Antisemit war, ohne hierauf jedoch weiter einzugehen) wird besonders markant, wenn der Leser/die Leserin auf die in der Sozialdemokratie latent vorhandene Judenfeindlichkeit hingewiesen wird, obwohl gerade diese als einzige Partei keine antisemitischen Grundsätze in ihrem Parteiprogramm verankert hatte.2 Durch das Ausblenden der jüdischen Unterschicht und die Konzentration auf das jüdische Bürgertum knüpft Wagner zudem an längst hinterfragte Klischees und Vorurteile an.

Tendenziell interpretiert der Autor Österreichs Nachkriegspolitik als eine Kette von Entscheidungen mehr oder weniger unmündiger einheimischer Politiker und weist demgegenüber Deutschland und Italien ein hohes Maß an Gestaltungsmöglichkeiten zu, womit er letztendlich Verantwortlichkeiten für die Einrichtung des Ständestaates und für den Anschluss 1938 externalisiert.

Überwiegend folgt Wagner einer beschreibenden und distanzierten Erzählweise, wodurch sich sein Buch, durch die zahlreichen Abbildungen attraktiv gestaltet, für Leser und Leserinnen empfiehlt, die einen schnellen Überblick über gewisse thematische Einheiten der Geschichte der Ersten Republik erfahren möchten. Fachhistoriker werden auf die abgebildeten Tabellen und Grafiken, die der Kartograf und Sachgrafiker in diesem Buch vorlegt, zurückgreifen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Bruckmüller, Ernst, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung (Studien zu Politik und Verwaltung 4), Wien u.a. 1984, S. 155.
2 Vgl. Wistrich, Robert S., Sozialdemokratie, Antisemitismus und die Wiener Juden, in: Botz, Gerhard u.a. (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 2. neu bearb. und erw. Aufl. Wien 2002 (1. Aufl. 1990), S. 187-195, hier S. 188.

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